Der Verein Kotti e. V. engagiert sich als Stadtteilzentrum in Berlin seit 30 Jahren im Einzugsbereich rund um das Kottbusser Tor in Berlin. Er fördert ressourcenorientierte und aktive Beteiligung älterer Migrantinnen und Migranten zur gesellschaftlichen Teilhabe anhand von Kultur- und Freizeitangeboten und der Selbsthilfe. Schon lange ist das Gruppenangebot „Club 2. Frühling“ für türkische Migrantinnen ab 50 Jahren von Kotti e. V. über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Es bietet älteren Migrantinnen die Möglichkeit, in ihrer Muttersprache über ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Migration zu sprechen und soziale Kontakte aufzubauen. Im Laufe der Jahre wurde ein Selbsthilfenetzwerk aufgebaut, um sich in verschiedenen Lebenssituationen gegenseitig zu unterstützen.

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1. Wie kam es zur Idee Ihres Angebotes?

Kotti e. V. ist seit 1984 als Bürgerinitiative im Kiez verankert und seit 1986 als eingetragener Verein organisiert. Viele unserer Besucherinnen und Besucher kennen uns schon von Anfang an. Damals waren sie noch junge Mitwirkende oder Anwohnerinnen und Anwohner. Viele von ihnen sind jetzt Seniorinnen und Senioren, deren Enkelkinder die an unseren Verein angebundenen Kitas besuchen oder besucht haben.

Das Angebot „Club 2. Frühling" ist eine feste Gruppe, die wir 1996 aufgebaut haben. Damals waren die Teilnehmerinnen zwischen Mitte und Ende 50. Berlinweit gibt es nur in unzureichendem Maße kulturspezifische Angebote. Das Angebot wurde ausgehend von den Bedarfslagen älterer Migrantinnen ins Leben gerufen und wird regelmäßig berlinweit von bis zu 120 Frauen, ehemals aus den unterschiedlichsten Regionen der Türkei in Anspruch genommen.

2. Was macht dieses Angebot in Ihren Augen so wichtig?

Es wird oftmals immer noch davon ausgegangen, dass gerade bei Migrantinnen und Migranten der Familienverbund sehr groß ist und die älteren Menschen in den Familien aufgefangen werden. Es hat aber ein großer Wandel stattgefunden. Bereits bei der Gründung des Angebots „Club 2. Frühling“ waren 90 Prozent der Teilnehmerinnen alleinlebende Frauen. Der Name „Club 2. Frühling“ stammt von den Teilnehmerinnen selbst. Er steht dafür, dass die Teilnehmerinnen sozusagen ihren zweiten Frühling mit weniger familiären und professionellen Pflichten erleben. Sie sind alleinstehend und ihre Kinder sind entweder nicht in der Stadt wohnhaft oder durch ihre eigene Familie zeitlich sehr eingespannt. Solche Lebenssituationen findet man in Metropolen immer häufiger und damit steigt auch die Gefahr zu vereinsamen.

Die älteren Migrantinnen waren nach ihrer Arbeitswelt plötzlich auf sich alleine gestellt und hatten keine Aufgaben mehr. Das waren alles Frauen, die 8 - 12 Stunden am Tag gearbeitet und sich zusätzlich um den Haushalt und die Kinder gekümmert haben. Mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben verlieren viele oftmals ihre sozialen Kontakte. Mangelnde Deutschkenntnisse, sprachliche Unsicherheiten, fehlende Kenntnisse über das Sozial- und Hilfssystem führen oft zu Vereinsamung und nicht zuletzt zu psychosomatischen Erkrankungen.

Durch unsere gute Netzwerkarbeit ist unser Angebot vielen Ärztinnen und Ärzten bekannt. Eine Zeit lang kam es häufiger vor, dass vor allem ältere Migrantinnen von Therapeuten an uns verwiesen wurden, obwohl wir gar kein Therapiezentrum sind. Nach kurzer Zeit hatten sie keine Therapie mehr nötig, da die älteren Migrantinnen nur soziale Anknüpfungspunkte suchten. Leider wird eine Vielzahl dieser Frauen medikamentös falsch behandelt. Viele erhalten Antidepressiva oder Schmerzmittel und werden davon abhängig, obwohl die Quelle ihres Unwohlseins eine nicht medizinische ist. Wir erleben das hier hautnah, wenn sie mit einer Vielzahl an Medikamenten kommen, die sie häufig gar nicht brauchen.

Aufgrund des niedrigen Einkommens während der Erwerbstätigkeit bezieht die Mehrheit dieser Frauen eine geringe Rente. Freizeitangebote können sich nur wenige leisten. Wir bieten ihnen mit dem Angebot „Club 2. Frühling“ einmal die Woche ein festes Gruppenangebot und somit die Möglichkeit, in ihrer Muttersprache über ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Migration zu sprechen und sich auszutauschen.

3. Wie gehen Sie vor, um älteren Menschen mit Migrationshintergrund einen möglichst leichten Zugang zum Angebot zu ermöglichen (Niedrigschwelligkeit)?

Um die Zielgruppe zu erreichen, nutzen wir unterschiedliche Zugangswege. Wir wirken seit Jahren in einem Netzwerk mit anderen Einrichtungen mit, die explizit mit Menschen älterer Generationen zusammenarbeiten. Hierbei fassen wir die Alterspanne etwas breiter, da die älteren türkischen Migrantinnen und Migranten häufig schon mit 50 Großeltern sind und sich selbst „alt“ fühlen. Neue Zugänge haben wir oft über die Kinder, die Beratungsleistungen bei uns in Anspruch nehmen. Sie berichten oft davon, dass ihre Mütter sich zu Hause langweilen. Dementsprechend informieren wir über unser Angebot. Neben den Angehörigen haben wir gute Kontakte zu Ärztinnen und Ärzten, die unser Angebot kennen und uns dementsprechend empfehlen. Des Weiteren erreichen wir neue Teilnehmerinnen über Mund-zu-Mund-Propaganda. Das ist die beste Werbung. Über Flyer erreichen wir gerade mal 0,5 bis 1 % der älteren Menschen, auch weil es nach wie vor einen Anteil an Menschen gibt, die nicht lesen oder mit schriftlichem Informationsmaterial nichts anfangen können.

Bei der Umsetzung unseres Angebots achten wir sehr darauf, dass das Angebot den Bedarfen und Wünschen der älteren Migrantinnen entspricht. Unsere Räumlichkeiten sind für die Leute sehr einladend gestaltet. Man merkt, dass sie sich mit dem Raum identifizieren. Mit dem gemeinsamen Essen versuchen wir an ein Familienritual anzuknüpfen, das die Teilnehmerinnen aus ihrem kulturellen Kontext kennen und somit Hemmschwellen abzubauen. Grundsätzlich haben die Menschen die Möglichkeit, unabhängig von den festen Gruppenangeboten zu uns ins Stadtteilzentrum zu kommen. Sie treffen sich hier und tauschen sich aus. Das Angebot „Club 2. Frühling“ ist offen gestaltet und es gibt keine festen Vorschriften, das heißt jeder, der vorbeischaut, darf auch teilnehmen.

4. Wichtige Aspekte Ihrer Arbeit sind die Unterstützung der Selbsthilfe sowie die langfristige Stärkung der Eigeninitiative. Wie gehen Sie vor und inwieweit gelingt es Ihnen, die Zielgruppe für die Verwirklichung ihrer eigenen Interessen zu befähigen?

Grundsätzlich gilt - unterschiedliche Zielgruppen bedürfen unterschiedliche Herangehensweisen. Es gibt wahrscheinlich nicht die eine Lösung. Ausgangspunkt sollte immer der Bedarf und das Interesse der Zielgruppe sein. Viele ältere Migrantinnen und Migranten haben nicht gelernt, im soziokulturellen Kontext eingebunden zu sein. Beim „Club 2. Frühling“ kommt eine Personengruppe zusammen, die jetzt nicht unbedingt von sich aus mit Ideen aufwartet. Dabei haben Mirgantinnen viele Ressourcen - jedoch haben sie nie gelernt, diese Potentiale zu verwirklichen und ihnen fehlt die Erfahrung, dafür Anerkennung zu erhalten. Anfangs haben wir die Teilnehmerinnen durch unterschiedliche Aktionen (Theater, Musikveranstaltungen, Museum) in das vorhandene Kulturleben eingeführt, um die Stadt als Lebensraum zu erfahren - über seinen eigenen Stadtteil hinaus, in dem man sich üblicherweise bewegt. Sie haben vieles kennengelernt, was in Verbindung mit ihren vorhandenen Potentialen Entwicklungen angestoßen hat. Viele der Frauen haben jahrelang eine bestimmte Rolle eingenommen und waren immer für andere da. Sie waren beispielsweise die Arbeiterinnen, die Mütter oder die Ehefrauen, aber sie waren nie sie selbst. Wir haben die Erfahrungen gemacht, dass wir Anstöße geben müssen. Es muss eine Atmosphäre geschaffen werden, in dem sich die Teilnehmerinnen wohl fühlen und anfangen zu erzählen. Das gelingt bei unseren Teilnehmerinnen über Essen, Musik und Tanz. Unsere Aufgabe ist es, die relevanten Themen zu erkennen und dementsprechend das Angebot mit Inhalten zu füllen.  An Themen, wie z. B. Pflege oder Wohnen im Alter, die für die Zielgruppe zwar relevant, jedoch weitestgehend unbekannt sind,  müssen die Teilnehmenden sensibel herangeführt werden, um nicht neue Ängste zu entwickeln.

Durch unsere Netzwerkarbeit versuchen wir, die Frauen nach Möglichkeit und Interesse in andere Angebote zu integrieren. Manche bringen sich ehrenamtlich ein, andere nehmen an einem Theaterprojekt teil. Wir unterstützen sie dabei, ihre Horizonte zu erweitern und ihre Möglichkeiten auszuschöpfen.

5. Können Sie uns fördernde sowie hemmende Faktoren bei der Umsetzung Ihres Angebotes nennen?

Natürlich erreichen wir überwiegend ältere Menschen, die noch mobil sind. Neben den gesundheitlichen Einschränkungen gibt es viele Gründe, die die Teilnahme erschweren oder sogar verhindern. Oftmals können ältere Migrantinnen und Migranten aus ihren geringen finanziellen Mittel das Fahrgeld nicht aufbringen. Zudem nehmen wir wahr, dass sich ältere Menschen im öffentlichen Raum oder bei der Inanspruchnahme von öffentlichen Verkehrsmitteln aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität nicht sicher fühlen. Auch hier müssen verschiedene Wege eingeschlagen werden, um diese Menschen zu erreichen. Unumgänglich sind wohnortnahe Angebote, die fußläufig zu erreichen sind - gerade im hohen Alter. Für die Personengruppen, die nicht mobil sind, ist es wichtig, wohnortnahe Angebote in Stadtteilzentren, Mehrgenerationenhäusern oder Pflegestützpunkten anzubieten. Durch die Netzwerkarbeit versuchen wir die Ressourcen verschiedener Akteurinnen und Akteure zu bündeln und gemeinsame Angebote zu entwickeln oder die Angebote in den jeweiligen Stadtteilen zu stärken. Angehörige, Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker und beispielsweise Pflegedienste sind darüber hinaus wichtige Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die auf die Angebotslandschaft aufmerksam machen können.

Um ältere Menschen für die Wahrnehmung oder Umsetzung eines Angebots zu gewinnen, ist Beständigkeit wichtig. Eine kontinuierliche Person als Ansprechpartnerin oder Ansprechpartner schafft Vertrauen. Neben einer Vertrauensperson sind gewisse Regelmäßigkeiten wichtig - das können sehr einfache Dinge sein. Es geht lediglich darum, dass die Zielgruppe sich auf bestimmte Begebenheiten, die ihnen wichtig sind verlassen kann. Im Sinne von:  „Ich gehe hin und der Ort ist da“, „Ich gehe hin und kann meinen Tee trinken“, „Ich gehe hin und treffe meine Freundinnen“.

Durch unsere Netzwerkarbeit versuchen wir, die Frauen nach Möglichkeit und Interesse in andere Angebote zu integrieren. Manche bringen sich ehrenamtlich ein, andere nehmen an einem Theaterprojekt teil. Wir unterstützen sie dabei, ihre Horizonte zu erweitern und ihre Möglichkeiten auszuschöpfen.

6. Was geben Sie denen auf Weg mit, die ähnliches planen?

Was uns wirklich bei allen Angeboten sehr wichtig ist, ist die Förderung von Mobilität. Ressourcen älterer Menschen müssen erkannt und Anknüpfungspunkte identifiziert werden, um die Potentiale auszubauen. Wenn eine andere Einrichtung beispielsweise mehr Möglichkeiten hat, räumlich flexibler ist oder personell besser ausgestattet ist, dann vermitteln wir die Leute gerne dorthin. Alles aus einer Hand - das ist ein Modebegriff geworden. Ich finde es fragwürdig, ob es erstrebenswert ist Menschen an einen Ort zu binden. Es ist wichtig, die Mobilität der älteren Menschen zu fördern, so dass sie wirklich unterschiedliche Angebote wahrnehmen und andere Orte kennenlernen können.

Bei weiteren Fragen zum Angebot

Neriman Kurt
Familiengarten-Stadtteilzentrum des Kotti e. V.
Oranienstr. 34, Hinterhof
10999 Berlin
Tel.: 030/614 3556
Mail: 
Web: www.kotti-berlin.de

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