Das Projekt AGIler (Aktivierende Gesundheitsinitiative für Langzeiterwerbslose) richtet sich an Menschen zwischen 50 und 65 Jahren, welche länger als 12 Monate ohne Erwerbsarbeit sind. Die erste Pilotphase wurde über einen Zeitraum von 10 Jahren im Rahmen des Bundesprogramms „Perspektive 50plus - Beschäftigungsaspekte für Ältere in Regionen“ getragen und lief im Dezember 2015 aus. Das Projekt zeigt einen gelungenen Ansatz zur Aktivierung und Integration älterer Menschen ohne Erwerbsarbeit.
Die Interviewfragen stellten wir Frau Constanze Santarossa (Projektleiterin AGIler, Goethe Universität Frankfurt, Abteilung Sportmedizin)
1. Wie kam es zur Idee Ihres Angebotes?
Mit zunehmender Dauer der Erwerbslosigkeit steigt das Risiko, an psychischen und somatischen Gesundheitsstörungen zu erkranken. Dies hat einen Rückgang der Arbeitsfähigkeit zur Folge. Vor diesem Hintergrund initiiert das Projekt „AGILer“ (Aktivierende Gesundheitsinitiative für Langzeiterwerbslose) durch individuelle Beratungsgespräche bewegungs- und ernährungsbezogene Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung. Um die Reintegrationschancen in den Arbeitsmarkt zu verbessern, wird versucht, die biopsychosozialen Ressourcen der Langzeitarbeitslosen zu stärken. Der Beschäftigungspakt „Chance50plus“ bietet Arbeitsuchenden ab 50 Perspektiven, indem vielfältig gestaltete Teilprojekte auf die Bedürfnisse des Klientels abgestimmt werden.
2. Was macht dieses Angebot in Ihren Augen so wichtig?
(Langzeit-)erwerbslose weisen beträchtliche interindividuelle Unterschiede auf, beispielsweise hinsichtlich des Grades der Selbstorganisation, der Motivation und der Bereitschaft zur Teilnahme an Gesundheitsförderungsmaßnahmen. Deshalb steht die individuelle Begleitung und Unterstützung der Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer durch die Gesundheitsberaterinnen und -berater im Vordergrund. Über den ganzen Projektverlauf ist die Beraterin oder der Berater jederzeit ansprechbar und leistet Hilfestellung bei individuellen Fragen. Basierend auf der Expertise fungiert dieser des Weiteren als Lotse, um eine entsprechende nachfolgende Gesundheitsmaßnahme für die Teilnehmenden auszuwählen.
Beratungen werden nach dem Ansatz des Empowerment-Konzepts durchführt, wobei die Aktivierung und Anregung zur kognitiven Auseinandersetzung mit der eigenen Gesundheit bzw. dem eigenen Körper im Vordergrund steht. Das Verdeutlichen erster gesundheitswirksamer Effekte durch die Teilnahme am Programm verbessert die Selbstwirksamkeits- und Kontrollüberzeugung und bestärkt die Motivation zur langfristigen Verhaltensänderung im Sinne eines gesundheitsbewussten Bewegungs- und Ernährungsverhaltens. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wird Gehör verschafft und Respekt entgegengebracht. Sie fühlen sich durch die 30 Minuten andauernden Termine ernst genommen und nicht abgefertigt.
Bei Vermittlung in eine Bewegungsmaßnahme kann die Teilnahme am öffentlichen Leben und der Kontakt mit Erwerbstätigen bestärkt werden; das Angebot regelmäßiger Termine über einen Zeitraum von mehreren Monaten trägt zu einer Restrukturierung des Alltags bei.
3. Wie gehen Sie vor, um älteren Menschen einen möglichst leichten Zugang zum Angebot zu ermöglichen? (Niedrigschwelligkeit)
Um Zugangshürden zu minimieren, ist es wichtig, das Angebot in der Lebenswelt der Menschen zu realisieren. Die Beratungen finden innerhalb der Jobcenter statt. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist der Ort der Beratungsgespräche bekannt und sie werden durch ihre Sachbearbeiterin oder ihren Sachbearbeiter auf die Gespräche vorbereitet, so dass eventuelle Ängste genommen und vermeintliche Barrieren geklärt werden können. Zum anderen finden die Bewegungsangebote immer in Wohnortnähe statt.
Arbeitssuchende, die über eine positive Einstellung zum Thema Gesundheit und ein gewisses Grundinteresse verfügen, sind innerhalb des Beratungsgesprächs gut zu erreichen. Zudem erhöht ein zeitnaher Zugang zum Beratungs- und später zum Bewegungsangebot die Compliance, das heißt die Bereitschaft zur Umsetzung gesundheitsfördernder Maßnahmen.
Das Projekt AGILer ist ein kostenloses Angebot der Jobcenter, welches das Budget des Arbeitssuchenden nicht zusätzlich belastet und einen entscheidenden begünstigenden Faktor darstellt.
4. Ihr Beratungsangebot zu den Themen Bewegung und Ernährung erfolgt in Zusammenarbeit zwischen der Abteilung Sportmedizin der Goethe-Universität Frankfurt und den Jobcentern der Region. Wie können Kooperationen in so unterschiedlichen Bereichen gelingen?
Um die notwendige Aufteilung von Aufgaben zu erleichtern, ist ein gemeinsam ausgearbeitetes Organisationsmodell hilfreich. Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der Arbeitsagenturen haben die Möglichkeit, potenzielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sofern ein Bedarf besteht, über das Gesundheitsberatungsangebot zu informieren und ggf. dorthin zu vermitteln. Das Beratungsteam, bestehend aus einer Sportwissenschaftlerin oder einem Sportwissenschaftler und einer Ernährungswissenschaftlerin bzw. einem Ernährungswissenschaftler bieten Interessierten einen ersten Individualtermin an, an dem eine Bewegungsanamnese oder ein Ernährungsstatus erhoben wird. Auf Basis der Ergebnisse wird ein gemeinsames weiteres Vorgehen erarbeitet. Die zuständige Sachbearbeiterin oder der zuständige Sachbearbeiter erhält eine Rückmeldung zum Gespräch mit der Teilnehmerin oder dem Teilnehmer unter Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen und kann eine Finanzierung einer evtl. nachfolgenden Bewegungsmaßnahme einleiten. Wichtig sind dabei kurze und schnelle Kommunikationswege, die durch einen direkten Austausch von Gesundheitsexpertinnen und -experten - Teilnehmerinnen und Teilnehmern - Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter gewährleistet werden - auch um die Motivation der Teilnehmerinnen und Teilnehmern optimal zu nutzen.
5. Nennen Sie uns einmal fördernde sowie hemmende Faktoren bei der Umsetzung Ihres Angebotes?
Essentiell ist unser ressourcenorientiertes Vorgehen, welches darauf abzielt, die körperlichen und mentalen Stärken der Teilnehmenden zu unterstützen. Dafür werden unter Berücksichtigung von Vorerkrankungen und individuellen Präferenzen gemeinsam Zielvorgaben für Aktivitäten im Alltag erarbeitet. Diese Vereinbarungen helfen, Erfolge sichtbar zu machen.
Bei der Umsetzung unseres Angebots ist es besonders wichtig, bestehende Hürden schnellstmöglich zu erkennen und wenn möglich zu reduzieren oder gar zu beseitigen. Beispielsweise helfen dolmetschende Familienangehörige oder Freunde dabei, sprachlich-kulturelle Barrieren der Teilnehmenden zu beseitigen. Werden Hürden nicht zeitnah beseitigt, so verliert man den potentiellen Teilnehmenden auch schnell wieder.
Eine stetige wissenschaftliche Begleitung gibt Rückschlüsse auf die Wirksamkeit des Projektes. Die Effekte der Intervention wurden durch Erfassung der Veränderung (vermittlungs-) relevanter Daten analysiert (Evaluation von Bewegungsverhalten, subjektiver Gesundheitszustand, Körpergewicht etc.). Um die Qualität zu sichern, wird darüber hinaus mit Hilfe von anonymen Fragebögen die Zufriedenheit der Teilnehmenden erhoben, so dass im Bedarfsfall Veränderungen unzweckmäßiger Strukturen vorgenommen werden.
6. Streben Sie an, dass Ihr Angebot über die Projektlaufzeit bestehen bleibt? Wenn ja, wie verfolgen Sie dieses Ziel?
Bei der Durchführung unsers Projektes hat sich gezeigt, wie wichtig ein barrierereduzierter Zugang zu Gesundheitsberatungen und öffentlichen Bewegungs- und Gesundheitsangeboten für arbeitslose Menschen ist. Aus den Erfahrungen der letzten Jahre geht hervor, dass die Reintegration von Langzeitarbeitslosen primär an gesundheitlichen Einschränkungen scheitert. Deshalb streben wir an, das Angebot über die Projektlaufzeit fortzusetzen. Der Übergang der Projektstrukturen in den Regelbetrieb der Jobcenter wird derzeitig diskutiert. Wir bedauern sehr, dass die Weiterführung des Projektes noch offen ist, da unsere langjährigen Erfahrungen und Ergebnisse zeigen, wie wirkungsvoll unsere Interventionen sind. Werden die Betroffenen nicht in der Verbesserung ihrer mentalen und körperlichen Konstitution bestärkt und unterstützt, dann macht der Versuch der Reintegration in den Arbeitsmarkt nachhaltig keinen Sinn. Zur Diskussion steht weiterhin, ob dieses Gesundheitsberatungskonzept um jüngere Altersstufen erweitert wird, da auch diese zunehmend durch gesundheitsgefährdendes Verhalten (Bewegungsmangel, Übergewicht, unausgewogene Ernährung, Alkohol- und Nikotinabusus) infolge Arbeitslosigkeit einen Bedarf an Gesundheitsförderung haben.
7. Was geben Sie denen auf Weg mit, die ähnliches planen?
Meine Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Menschen nicht wegen ihrer körperlichen Beschwerden zu uns kommen, sondern vor allem aufgrund psychischer Beschwerden. Das übersteigt natürlich unsere Kompetenzen. Hier wäre ein multidisziplinäres Gesundheitsangebot, bestehend aus Ernährungs- und Bewegungsberaterinnen oder Ernährungs- und Bewegungsberatern sowie Psychologen sinnvoll. Eine wissenschaftliche Evaluierung - auch bezüglich der Nachhaltigkeit des Konzeptes - sollte zu jedem Zeitpunkt gewährleistet sein, um die Erfahrungen innerhalb des Projektes auch anderen Interessierten zugänglich zu machen.
Bei weiteren Fragen zum Angebot
Constanze Santarossa
Abteilung Sportmedizin, Fachbereich 5
Goethe-Universität Frankfurt | Sportcampus Ginnheim
Ginnheimer Landstraße 39
60487 Frankfurt am Main
Tel: 069 798 24582
Fax: 069 798 24592
Mail: Santarossa(at)em.uni-frankfurt.de
Web: www.sportmedizin.uni-frankfurt.de
Gesundheitliche Chancengleichheit
Der Kooperationsverbund wurde 2003 von der BZgA initiiert. Sein zentrales Ziel ist die Stärkung und Verbreitung guter Praxis in Projekten und Maßnahmen der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten.